Tatjana Ovruchskaja

Das Theater ist eine uralte Metapher, um die Wechselfälle des Lebens zu beschreiben. Auf der Bühne wird tragisch, komisch, naturalistisch, märchenhaft, ironisch und sarkastisch das zur Anschauung gebracht, dem man sich im realen Leben nur selten offen stellt. Die Wahrheit über das Leben kann im Theater leichter ausgesagt werden als im wirklichen Leben. Der Zuschauer fühlt sich sicher in dem Wissen, daß alles nur ein Spiel ist und selbst die Tragik ihr Ende findet, wenn der Bühnenvorhang sich senkt. Doch ist diese Sicherheit nur eine scheinbare. Es gehört zu den Regeln des Theaterspiels, die Zuschauer durch die Schauspielkunst vergessen zu machen, daß es ein Spiel ist, ihre Seele anzurühren und sie zu Mitspielern auf der Bühne des Theaters zu machen. Anhand der Figuren des Stückes agieren sie in ihrem Innern sich selbst und ihre Lebensrollen aus und weinen und lachen und hassen und gröhlen und lieben mit denen auf der Bühne. Manche Aufführung lockt die Zuschauer derart aus der Reserve, daß, wenn sie aus dem Theatersaal in ihr Leben zurückkehren, sich über sich selbst erschrecken, wie ein fremdes Schicksal einer erdachten Figur ihr eigenes Leben zur Sprache gebracht und ihnen Gefühle und Gedanken entlockt hat, die sie aus Scham oder Furcht, in sich vergraben hatten. 
Die Bilder Tatjana Ovruchskajas eröffnen eine solche Bühne, in der das Verdrängte anschaubar wird. Die Figuren ihrer Bilder schweben in einem offenen Raum. Sie erinnern an die Bildaufteilung der Ikonen. Jesus, Engel und Heilige treten dem Betrachter vor dem goldenen Hintergrund göttlicher Gegenwart entgegen. Das die Transzendenz andeutende Gold ist in den Bildern Tatjana Ovruchskajas einem fahlen hellen Grau oder erdschweren Tönen gewichen. Selbst den Bildern, die, wie zur Orientierung des Betrachters, durch einiges Mobilar Haltepunkte andeuten, bleibt die Verlorenheit haften, die die Figuren wettzumachen suchen durch affektierte, scheinbar durch nichts zu erschütternde Selbstbewußtheit, durch maskenhafte Starre, in gequält - lethargischen Blicken. Die Bühnenbilder Tatjana Ovruchskajas haben nichts von einer bergenden Gewißheit, um die noch die Ikone weiß. In einer bestechenden Einfachheit des Ausdrucks, mit einem Anflug von liebevoller Ironie und Resignation, bringen sie ins Bild, was ist und wie es ist. Einsame Menschen, die selbst dann einsam sind, wenn sie zusammen sind. Gesten, die nicht meinen, was sie sagen. Mienen, die nicht widerspiegeln, wie es den Figuren geht. Und immer wieder Hände, sprechende Hände. Die betont lässig gehaltene Zigarette, wie in der Hand eines Knochenmannes, die Angst vor dem Tod ahnen läßt. Eine quetschende Faust, deren Gewalt vielleicht durchschaut werden kann auf ein Übermaß an Liebe, die sie sich erpressen will. Autonomie vorlügende Bewegungen, um eine hilflose Geste zu verbergen. Immer wieder auch Frauen als Opfer physischer und psychischer Gewalt. Das Bild "Lebenstheater", das der ganzen Ausstellung seinen Namen gab: Menschen zu einer schwindelerregenden Pyramide aufgestapelt, als wenn sie aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst, wie zufällig in das Bild gestellt und miteinander in Beziehung gebracht worden sind, ohne in Beziehung zueinander zu stehen, angetan mit Zirkus- und Clownskostümen, ähnlich dem Narren in den Dramen Shakespeares, der die Sinnlosigkeit des Daseins und menschlicher Handlungen ungestraft aussprechen darf, führen die Figuren ein Stück Lebenstheater auf: Balancieren im leeren Raum, ohne Netz, gute Mine zum bösen Spiel machen, Lebensrisiko.

Stefan Scholz